Illustration von zwei roten Händen, deren Fingerspitzen ineinander fließen und ganz viele unterschiedliche bunte Geschlechtersymbole in der Mittel halten. / Illustration: Fiona Tretau
Geschlechtsspezifische Medizin oder ‚Gendermedizin‘ – Begriffe, die sowohl Nicht-Mediziner*innen wie auch Ärzt*innen oftmals eher wenig sagen. Die über Jahrhunderte lang androzentrisch[1]-patriarchal geprägte Schulmedizin hat es augenscheinlich verpasst, geschlechtersensitive Inhalte zu vermitteln, in die gesundheitliche Versorgung zu integrieren oder zu hinterfragen.
Was genau die geschlechtsspezifische Medizin aktuell in der deutschen Schulmedizin beinhaltet – oder auch nicht, und warum wir dies ändern sollten, möchte ich hier aus der Perspektive einer weiblichen, kritischen Ärztin in Deutschland diskutieren.
Wenn wir von ‚Geschlecht‘ im medizinischen Sinne sprechen, meinen wir eigentlich immer einen biologischen Geschlechtsbegriff. Dieser orientiert sich an primären und sekundären Geschlechtsorganen und -merkmalen, Geschlechtshormonkonzentrationen, Chromosomen, etc. Der Geschlechtsbegriff der Schulmedizin wurde und wird überwiegend cis-heteronormativ und binär verstanden. Sie spricht also von typisch ‚männlichen‘ und typisch ‚weiblichen‘ Erkrankungen – der Mann hat es früher oder später mit der Prostata, die Frau erkrankt mit höherer Wahrscheinlichkeit an Brustkrebs.
Was ist Gendermedizin?
Gendermedizin ist in Deutschland ein Wissenschaftsbereich der medizinischen Soziologie. Sie entstand aus dem feministischen Begehren des sogenannten „2.-Welle-Feminismus“ in den 60er/70er Jahren heraus, die sogenannte „Frauengesundheit“ in den Kanon der androzentrischen Humanmedizin aufzunehmen. Studienergebnisse zeigten, dass Medikamente bei weiblichen Patientinnen teilweise andere Nebenwirkungen entfalteten, sogar anders wirkten, als bei den männlichen Patienten. An ihnen waren Medikamente bis dato nämlich oftmals ausschließlich getestet worden. Auch Symptome beispielsweise eines Herzinfarkts zeigten in kardiologischen Studien geschlechtsspezifische Besonderheiten. Die Unkenntnis darüber führte zu Unterschieden in den sogenannten „harten Enddaten“, wie zum Beispiel der plötzliche Herztod oder die Reanimationspflicht. Konkret bedeutet das: Weil mehr Frauen bei Herzinfarkten sogenannte „atypische“ Symptome wie Oberbauchschmerzen zeigen, wurden sie im Gegensatz zu den „typischen“ Schmerzen in Brust und Schulter bei der Mehrheit der männlichen Patienten, zu spät oder fehl-diagnostiziert und hatten somit eine höhere Todesrate.
Dies sind nur wenige Beispiele von weiterwachsenden wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Studien, die zeigten: „Frauen sind anders krank“. Und sie erhalten bis heute in dem androzentrischen Gesundheitssystem „von und für Männer“ – in dem ‚der Mann‘ den Standardpatienten, Standardprobanden und Standardarzt darstellt – eine qualitativ schlechtere medizinische Behandlung.
Gesundheitsverhalten und -kompetenzen, die Inanspruchnahme präventiver Angebote und die Konsultation von medizinischer Versorgung zeigen, dass auch das psycho-sozio-kulturelle Geschlecht und diesbezügliches Rollenverhalten einen starken Einfluss auf die Gesundheit von Patient*innen ausüben. Aber auch das geschlechtsspezifische Verhalten, beispielsweise in der Kommunikation des medizinischen Personals gegenüber den Patient*innen, beeinflusst die Versorgung. Vera Regitz-Zagrosek, Mitbegründerin der Gendermedizin in Deutschland, schreibt: “In terms of diagnosis and treatment, women receive less guideline-based diagnosis and less-invasive treatment[…], not as a result of evidence-based strategies, but simply owing to the habits of physicians.” (Regitz-Zagrosek 2012).
Aus dem gesellschaftlichen Begehren einer gleichberechtigten Medizin entwickelte sich also der Zweig der geschlechtsspezifischen Medizin. Etwas polemisch könnten wir feststellen: Die Medizin entdeckt gerade, dass Frauen auch ‚Patienten‘ sind.
In die medizinische Lehre und Ausbildung ist dieser Ansatz allerdings immer noch kaum oder nur unzureichend integriert. Eine Umfrage des Deutschen Ärtzinnenbundes 2016 ergab, dass an den medizinischen Fakultäten mehrheitlich nicht sichergestellt wird, ob und wie Genderaspekte als Lehrinhalte angeboten und geprüft werden – ein Ergebnis, das in einem Gutachten in Kooperation mit dem Bundesministerium für Gesundheit 2020 erneut bestätigt wurde (BMG 2020, Ludwig 2016). Nur eine einzige deutsche Fakultät erfüllt nach internationalen Bewertungsmaßstäben eine ausreichende Integration von Genderaspekten und geschlechtsspezifischer Medizin in die Lehre der Humanmedizin – die Charité Berlin, die mit dem ersten (und bislang einzigen) Institut für Geschlechterforschung in der Medizin eine Vorreiterrolle in Deutschland einnimmt.
Was heißt dies für die Mehrheit der deutschen Medizinstudierenden, die schon bald den ärztlichen Nachwuchs in den Kliniken stellen?
Berührungspunkte und Lehrinhalte zu ‚gender‘ und ‚sex‘ im Studium finden sich kaum. Hier ein ernüchternder Rückblick aus meinem Studium: Insgesamt hatte ich eine fakultative Vorlesung zu „Transsexualität“ in dem Fachbereich der Psychiatrie (!), und im Fach Humangenetik wurden ein paar ausgewählte „genetische Krankheiten“ mit intersexuell ausgebildeten biologischen Geschlechtsmerkmalen besprochen.
Der Deutsche Ärztinnenbund schreibt in Bezug auf die oben zitierte Studie 2016 somit zu Recht: „Die Integration von geschlechtsspezifischer Medizin in die medizinischen Curricula steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Leider finden geschlechtsspezifisch bezogene Forschungsergebnisse bislang nur selten Eingang in die medizinische Lehre.“
Konservative Stimmen führen allzu oft an, es gäbe schon geschlechtsspezifische Medizin – in Form der Disziplin „Frauenheilkunde“, also der Gynäkologie. Hier sei deutlich gesagt, dass es sich bei geschlechtsspezifischer Medizin nicht um „Frauenheilkunde“ handelt. Es wird in dieser Annahme dem biologischen ‚sex‘ binär das Geschlecht zugeschrieben, und ‚Frau‘ mit bestimmten Merkmalen wie Uterus-besitzend, menstruierend, gebärend etc., also körperlichen Eigentlichkeiten ontologisiert. Auch wird den, so als weiblich gelesenen, Menschen in dieser Annahme abgesprochen, andere körperliche Unterschiede und Krankheitsausprägungen, wie zum Beispiel bei dem oben erwähnten Herzinfarkt, zu haben. Oder polemischer: mehr als Uterus und Östrogen zu sein. Diese Argumentationsweise unterstreicht den medizinischen Androzentrismus erneut.
Vera Regitz-Zagrosek schreibt hierzu: “Gender‐sensitive medicine is not the same as considering the specific needs of women in health care—such as during pregnancy or during menopause–and might even be contradictory. Gender medicine must consider the needs of both sexes [sic!].“ (Regitz-Zagrosek 2012).
Ein Problem stellt eindeutig der binäre Geschlechtsbegriff der medizinischen Wissenschaft und Lehre dar. Ich würde das oben genannte Zitat gerne erweitern, und das Wort “both” als Symbol der hegemonialen binären Geschlechtlichkeit in der medizinischen Wissenschaft und Praxis durch das Wort “all” ersetzen. Der Gendermedizin geht es darum, die qualitativ bestmögliche medizinische Versorgung für alle Menschen zu gewährleisten, unabhängig eines ihnen zugeschriebenen Geschlechtes. Denn einerseits ist spätestens seit der Integration von psychosomatischen und medizinsoziologischen Inhalten in die Schulmedizin deutlich, dass Gesundheit nicht auf Körperlichkeiten und physiologische Zustände reduziert werden kann – und Geschlecht als Teil des bio-psycho-sozialen Systems der Patient*innen mit betrachtet werden muss. Und andererseits ist neben Gender auch das „biologische Geschlecht“ ein Spektrum variabler Ausprägungen von Körperlichkeiten, die momentan jedoch von uns Mediziner*innen bei der Geburt eines Menschen als vermeintlich eindeutig den binären Geschlechtskategorien zugeordnet werden. Dies kann zu erheblichen Konsequenzen für die Kinder und ihre Angehörigen führen – operativ, psychologisch, sozial. Ein Problem, welches eigentlich eines eigenen Artikels bedürfte.
Dazu schrieb auch der Evolutionsbiologe John Haldane schon 1927: “The universe is not only queerer than we suppose, it is queerer than we can suppose.”
Diese Erkenntnisse fordern die binäre Geschlechterlogik der Humanmedizin heraus, welche es in den nächsten Jahrzehnten zu queeren gilt.
Was tun?
Ja, was tun wir also als kritische Mediziner*innen, als kritische Patient*innen dagegen und dafür?
Die ‚Gender-Awareness‘ stellt die Kompetenz dar, das Wissen über geschlechtsspezifische Unterschiede in das eigene (medizinische) Handeln zu integrieren. Es gilt also, Gender-Awareness – auch über die binäre Geschlechterlogik hinaus – als eine Schlüsselkompetenz in die medizinische Lehre und Praxis aufzunehmen, zu informieren und zu sensibilisieren. Als Gesundheitspersonal gilt es, die eigene Vergeschlechtlichung[2] sowie die der Patient*innen zu hinterfragen, und im eigenen medizinischen Handeln mitzudenken. Als Patient*innen gilt es, dieses medizinische Handeln zu hinterfragen und den Diskurs um Gendermedizin mit zu gestalten.
Wie auch immer dieses Queering in der Praxis aussehen mag – fest steht jedenfalls, dass es Frauen, inter, trans und nichtbinären Personen zu verdanken ist, dass diese Debatten sowohl wissenschaftlich als auch öffentlich-diskursiv aus dem Randdasein ins Rampenlicht geholt wurden. Dies zeigt, dass eine Verschiebung des Diskurses und folgend eine Veränderung der materiellen Gesundheitsversorgung möglich sind. Es liegt nun auch an uns Nachwuchs-Ärzt*innen, für die gendermedizinische Lehre und Forschung einzustehen, und an uns Patient*innen, gendersensible Behandlungen einzufordern.
(Daher ein lautes „Danke“ an diese Initiative, Gynformation!)
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Laura Wortmann ist Ärztin und Promovendin im Bereich Gendermedizin an der Universität zu Köln. Sie interessiert sich für intersektionale Kritik der Medizin und Gender Studies und schreibt gerne darüber. Neben ihrer Promotion engagiert sie sich politisch in feministischen und Klimagerechtigkeits-Kämpfen.
Fußnoten: [1] Androzentrisch bezeichnet eine Sichtweise, die Männer im Zentrum oder Norm versteht – und Frauen als deren Abweichung.
[2] Vergeschlechtlichung steht hier sowohl für die selbst erwählte als auch für die von außen zugeschriebene Positionierung innerhalb der Geschlechts-Spektren (gender und sex) und daraus entstehende bio-psycho-soziale Konsequenzen.
Literatur:
(1) Bundesministerium für Gesundheit Deutschland, Deutscher Ärztinnenbund e.V., Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V. (2020): Aktueller Stand der Integration von Aspekten der Geschlechtersensibilität und des Geschlechterwissens in Rahmenlehr- und Ausbildungsrahmenpläne, Ausbildungskonzepte, -curricula und Lernzielkataloge für Beschäftigte im Gesundheitswesen. Fachgutachten Kennzeichen GE 2018 04 38. Entommen:
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/gesundheit/details.html?bmg%5Bpubid%5D=3490
(2) Kautzky-Willer, Alexandra (Hrsg.) (2012): Gendermedizin. Prävention, Diagnose, Therapie. Wien/Köln/Weimar: UTB Böhlau Wien. ISBN: 978-3-8252-3646-5
(3) Ludwig, Sabine/Dettmer, Susanne/Peters, Harm/Kaczmarczyk, Gabriele (2016): GESCHLECHTSSPEZIFISCHE MEDIZIN IN DER LEHRE - Noch in den Kinderschuhen. Die Integration von geschlechtsspezifischer Medizin in die medizinischen Curricula ist deutschlandweit sehr heterogen geregelt. Übergreifende Konzepte zur besseren inhaltlichen und strukturellen Verankerung sind künftig notwendig. Deutsches Ärtzeblatt, Heft 51-52, 26.12.2016
(4) Regitz-Zagrosek, Vera (2012): Sex and gender differences in health; Science & Society Series on Sex and Science, EMBO Rep. 2012 Jul; 13(7): 596–603, DOI: 10.1038/embor.2012.87